Das Drehbuch als fiktionaler Erzähltext

Leseprobe: Das Drehbuch als fiktionaler Erzähltext

Seit die Bilder in den Cafés und Varietétheatern des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Laufen lernten, hat der Film eine beispiellose Karriere gemacht. Unzählige Spielfilme wurden seither produziert, die im Kino, als Fernsehfilm, auf Video oder DVD oder über das Internet Milliarden von Menschen erreicht haben. Die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) verzeichnet für das Jahr 2012 154 „deutsche Spielfilm-Erstaufführungen im Kino“. Die Gesamtzahl der Spielfilme, die im selben Zeitraum in den deutschen Kinos erstaufgeführt wurden, beträgt nach Angaben der SPIO 452. Im Jahr 2012 wurden allein in Deutschland insgesamt 135,1 Millionen Kinobesuche gezählt.

Längst ist der Film im Gefüge der kulturellen und medialen Institutionen etabliert. Die Entschlüsselung der kommunikativen Codes – der visuellen und akustischen Zeichen – und das Verständnis der spezifischen erzählerischen Mechanismen, die das Medium hervorgebracht hat, sind heute selbstverständlicher Bestandteil des kulturellen Instrumentariums. Viele der großen Filme sind zu Klassikern der Gegenwartskultur geworden – man denke etwa an Filme wie Michael Curtiz‘ ‚Casablanca‘(1942) oder Sergio Leones ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ (1968), aber auch an Quentin Tarantinos ‚Pulp Fiktion‘ (1994) oder Andy und Lana Wachowskis ‚Matrix‘ (1999). Berühmte Regisseure und Filmstars sind heute Ikonen der Populärkultur. Die Omnipräsenz der Stars und Sternchen in der Manege der medialen Öffentlichkeit lässt dabei leicht vergessen, dass die Produktion eines Spielfilms von jeher ein Unterfangen ist, das die Teamarbeit einer Vielzahl von Spezialisten erfordert, deren Wirken der breiten Öffentlichkeit oft verborgen bleibt: Neben Regisseuren und Schauspielern sind an einer Filmproduktion Kameraleute, Produzenten, Cutter, Produktionsleiter, Maskenbildner, Ausstatter, Beleuchter und Kabelträger beteiligt, um nur einige zu nennen. Ebenso vielfältig wie die Spezialisten, die an einem Film arbeiten, sind die Aufgaben, die sie wahrnehmen. Ein Filmprojekt erfordert neben den eigentlichen Dreharbeiten eine sorgfältige Planung und Nachbereitung. Dabei spielt, spätestens mit der Einführung des Tonfilms Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, das Drehbuch eine entscheidende Rolle: Es ist Grundlage sowohl ästhetischer, dramaturgischer, produktionspraktischer, als auch finanzieller Entscheidungen. Um diese Funktionen ausüben zu können, muss es aber zunächst als Text funktionieren und verstanden werden. Ganz in diesem Sinne sind weite Teile der literatur- und medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Drehbuch zu verstehen. Es wird hier in der Regel als Gebrauchstext behandelt, dessen Zweck darin besteht, einen Film dramaturgisch und strukturell zu präfigurieren. Dem gegenüber vertritt Béla Balázs schon 1948 eine völlig andere Auffassung, wenn er schreibt: „Das Drehbuch ist nicht nur ein Hilfsmittel, es ist nicht wie ein Baugerüst, das man wieder abträgt, wenn das Haus steht, sondern es ist eine der Arbeit von Dichtern würdige literarische Form.“ Balázs betont in diesem Zitat eine Qualität des Drehbuchs, die neben seine dienende Funktion für den Film tritt: die eines literarischen Kunstwerks.

Davon ausgehend, dass ein und derselbe Text unterschiedliche Funktionen innehaben kann, wird sich diese Arbeit mit dem Drehbuch als einem literarischen (Kunst-)Werk befassen, genauer, mit dem Drehbuch als fiktionalem Erzähltext. Im Zentrum des Interesses steht dabei die Frage:

„Worin bestehen die besonderen narratologischen Merkmale des Drehbuchs?“

Ziel ist es, eine erzähltheoretische Perspektive auf das Drehbuch als Text zu eröffnen.
Bevor das Drehbuch als Erzähltext analysiert werden kann, ist eine nähere Bestimmung des Gegenstands der Analyse notwendig. Dabei wird in einem ersten Schritt die historische Entwicklung der Textsorte Drehbuch dargestellt. In einem zweiten Schritt soll ein Überblick über die Sekundärliteratur gegeben werden, die sich mit dem Drehbuch als Text befasst. Darauf aufbauend wird schließlich in einem dritten Schritt versucht werden, eine Definition des Drehbuchs als konkretem Gegenstand der Analyse zu erarbeiten. Diese Definition wird im Wesentlichen darauf abzielen, das Drehbuch als autonomes literarisches Werk bestimmen zu können.

Ausgehend von dieser Gegenstandsbestimmung, widmet sich der Hauptteil der Arbeit der erzähltheoretischen Untersuchung der Textsorte Drehbuch. Dabei gilt es zunächst, das Drehbuch in Abgrenzung zum Dramatischen als narrativ zu begründen. Grundlegende Konzepte und Definitionen von Narrativität werden dazu in ihren zentralen Aspekten dargestellt und mit wesentlichen Ansätzen der Dramentheorie kontrastiert. Das Drehbuch wird so einerseits anhand von Differenzkriterien gegenüber dem Drama abgegrenzt, andererseits anhand der Übereinstimmung mit den diskutierten Kriterien des Narrativen als narrativ bestimmt.

Grundlage der konkreten erzähltheoretischen Analyse des Drehbuchs ist Gérard Genettes Narratologie „Die Erzählung“. Darüber hinaus wird Markus Kuhns „Filmnarratologie“ zur medienwissenschaftlichen Ergänzung der theoretischen Basis der Untersuchung herangezogen. Genettes Narratologie basiert auf der Unterscheidung von drei Aspekten der Erzählung: Der Geschichte, der Narration und der Erzählung bzw. des narrativen Diskurses. In seinen drei Hauptkategorien Zeit, Modus und Stimme setzt sich Genette mit unterschiedlichen Implikationen des Verhältnisses der drei Aspekte der Erzählung auseinander.
Für die Analyse des Drehbuchs werden die narratologischen Kategorien Genettes dem Untersuchungsgegenstand gegenüber gestellt, um zu überprüfen, ob und inwiefern sie auf das Drehbuch angewandt werden können. Andererseits werden textsortenspezifische Eigenschaften des Drehbuchs – wie etwa ‚Regieanweisungen‘ – dahingehend überprüft, ob sie mit den Kategorien der Narratologie in Übereinstimmung gebracht werden können. Die Untersuchung wird die drei Hauptkategorien Genettes in umgekehrter Reihenfolge behandeln. Sie wird sich also zuerst den Fragen widmen, die die Kategorie der Stimme betreffen, dann denen, die die Kategorie Modus betreffen und schließlich denen, die sich auf die Kategorie der Zeit beziehen. Die Wahl dieser Reihenfolge des Vorgehens begründet sich insbesondere in der Annahme, dass in der Kategorie Stimme einige Probleme – darunter vor allem das der narrativen Instanzen – verhandelt werden, deren Klärung für die Auseinandersetzung mit den folgenden Themenkomplexen von Vorteil ist.
Das Kapitel Stimme widmet sich den narrativen Instanzen und Ebenen des Drehbuchs. In Anlehnung an Kuhn wird hier ein Modell der narrativen Kommunikationsebenen und Instanzen des Drehbuchs erarbeitet. Außerdem wird ein Vorschlag unterbreitet, wie das Problem der vermittelnden Erzählinstanz im Hinblick auf das Drehbuch gelöst werden kann. Insbesondere wird dabei auf den drehbuchspezifischen Verweis auf den Film bzw. das Filmische eingegangen.

(Jan Gebhardt, 'Das Drehbuch als fiktionaler Erzähltext', Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2016)

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